Textatelier
BLOG vom: 30.07.2016

Fragmente aus dem Leben gegriffen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London


Wie sich unsere Lebensbahn verlängert, verdunsten viele Erinnerungen, wie sich Gedächtnislücken ausbreiten. Aber solche vergessene Erinnerungen können jäh fragmentarisch aufleben. Wir haben ihnen damals keine Bedeutung zugemessen, im Gegensatz zu solchen, die sich in unserem Hirn unauslöschlich eingeprägt haben.

Dieser Befund drängte sich mir auf, als ich in einer Holzkiste im Schuppen die eingelagerten Fotos und Briefe sichtete. Mit meiner Minox-Kamera hatte ich einst viele Schnappschüsse geknipst. Im Londoner Portobello-Markt bin ich vielen Käuzen begegnet: Ein alter Mann mit Zylinder schubste einen Kinderwagen voran, vollgestopft mit zerschlissenen Kleidern und ausgetretenen Schuhen. Mitten in diesem Haufen döste sein Hund. Ich bin ihm wiederholt an Samstagen begegnet.

Es war in Paris, in Saint Germain, wo ich verblüfft einem Bärentänzer begegnet bin. Die Menge hatte sich um ihn geschart, wie er seinen Bären zum Tanzen brachte. Das arme Tier konnte nicht anders, als sich aufgerichtet drehen und wenden, wie sein Besitzer an seinem Nasenring zog.

Somit sind Fotos wirksame Gedächtnisauffrischer.

Mein Vater war im 2. Weltkrieg als “Büchser” in Graubünden dem Grenzschutz zugeteilt. Er fuhr einen Jeep mit seinen Werkzeugen, womit er die Karabiner wartete. Mir ging erst jetzt dank einer Foto auf, wie es ihm gelang, den schweren Polentatopf aus Bronze ins Tal zu bringen. Dieses Erbstück hat heute seinen Ehrenplatz beim Hauseingang.

Ich habe die Briefe meiner Eltern sorgfältig aufbewahrt. Meine Mutter schrieb mir, als ich in London lebte, ihre Briefe nach Lust und Laune in Französisch, Deutsch und Holländisch.

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Ich will hier nicht mein Sammelsurium von Fragmenten weiter verfolgen, denn es liegt mir daran, den Sinn und Zweck von Fragmenten zu deuten, und weshalb sie unverhofft im Gedächtnis aufblitzen können.

Vor rund drei Jahren folgte ich der Einladung zum Klassentreffen meiner Schulkameraden in Basel. Keiner von ihnen, mich inbegriffen, hat sich wesentlich verändert, ausser im Aussehen. Ich hätte sie auf der Strasse nicht wiedererkannt, und sie mich wohl auch nicht. Aber die Anknüpfungspunkte flitzten im Gespräche auf: “Weisst du noch, wie ...” Mein Gedächtnis wurde dabei ergötzlich aufgefrischt. Beinahe alle meine Schulkameraden sind der heimatlichen Scholle treu geblieben. Mühelos fand ich mich wieder im Dialekt zurecht.

Ich erkenne das Positive solcher Fragmente. Sie sind mir Farbtupfen, Spuren, die das Leben bei uns hinterlässt. Nun gibt es auch solche, wie vergangene Fehler, die Schattenbilder aus der Vergangenheit heraufbeschwören. Sie ermahnen mich, solche Fehler zu meiden. In diesem Sinne sind sie Fingerzeige für die Zukunft.

 


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